Amrei Flechsig

Nachdenken – nachhören. Der Komponist Joachim Heintz im Gespräch

„Das Wesentliche ist nicht der Ausgangspunkt, sondern die Arbeit an der Vertiefung.“


Joachim Heintz leitet das elektronische Studio Incontri an der HMT Hannover und unterrichtet Audio-Programmierung an der HfK Bremen. Er hatte zunächst Literatur- und Kunstgeschichte studiert, bevor er sein Kompositionsstudium bei Younghi Pagh-Paan und Günter Steinke aufnahm. Sein Werk „Potentiale“, das er für den Platz der Weltausstellung in Hannover geschrieben hat, stand im Mittelpunkt der zeit·lupe IX am 30.10.2009.


Wie würdest du einleitend selbst deine Art zu komponieren und deine Ziele beschreiben? Kann man sagen, dass du dich in deiner Arbeit auf elektronische Musik konzentrierst?

Die letzten Jahre überwiegend, ja, aber das ist für mich eigentlich kein grundsätzlicher Unterschied, ob ich elektronisch oder mit Instrumenten arbeite. Für mich ist entscheidend, ein sicheres Gefühl dafür zu haben, was ich mit einem Stück will, was und warum mich etwas interessiert. Das ist bei mir meistens mit irgendwelchen außermusikalischen Anregungen, Erregungen oder Aufregungen verbunden.

Beispielsweise aus dem Bereich Literatur und Kunst?

Politik sehr viel – zum Beispiel hatte ich im letzten Sommer eine kleinere Klanginstallation in Herrenhausen gemacht, bei der ich ganz an- bzw. aufgeregt war von einem Radiofeature über das gewaltsame Ende des Bürgerkriegs in Sri Lanka. Für mich ist Musik nicht etwas, das eine politische Botschaft vermitteln soll, aber durchaus eine Möglichkeit, sich mit einem politischen Zusammenhang in einem anderen Modus auseinanderzusetzen. Anderer Modus heißt, etwas verarbeiten zu können, was in so einem Feature meistens nur „durchrutscht“, für das keinen Raum bleibt. Konkret habe ich dort mit zwei Zitaten gearbeitet: Das eine ist von einer Frau aus dem Flüchtlingslager, das andere ist von dem Regierungschef, der sagt, „jetzt sind alle Probleme gelöst, jetzt haben wir die Rebellen militärisch besiegt und damit ist unser Land wieder sauber“. Meine Arbeit bestand darin, diesen beiden Zitaten sehr viel Raum zu geben, und mit anderen Klängen und musikalischen Elementen, wie Rhythmik oder Farben, etwas herauszuholen, was mit diesen sehr verschiedenen Situationen zu tun hat: Ob nun jemand an der Spitze der Macht steht und einen Krieg befohlen und erfolgreich durchgeführt hat, oder ob nun eine Frau eines der zahllosen Opfer dieses Krieges geworden ist.

Und wie verarbeitest Du das dann genau, gerade bei diesem Beispiel?

In diesem Stück habe ich die Zitate extrem verlangsamt und mit anderen Klanglichkeiten verbunden oder „gekreuzt“. Das war in dem Fall tatsächlich ein elektronisches Verfahren, mit einer Technik, die man „Faltung“ nennt, d.h. andere Klänge sozusagen „hineinfaltet“. Und zwar geht das zwischen diesen Zitatebenen immer im Wechsel. Außerdem war natürlich wichtig, dass ich wusste, dass es für den Garten gemacht ist – der Garten ist ja mit seiner Begrenzung nach außen quasi selbst eine Art Schutzraum. So war es die darüber hinaus gehende Idee, die ganze Situation des Gartens so zu gestalten, dass man Klänge hört, die von ganz woanders her kommen, in dem Fall jetzt aus einer anderen geographischen und politischen Wirklichkeit.

Das war also ganz konkret auf diesen Ort hin konzipiert?

Ja, das war ganz wichtig. - Von daher sind es oft Anknüpfungspunkte aus der Politik, die mich anregen etwas zu machen. Dahinter steht ein Begriff von Politik, der sich verbindet mit Bereichen wie Musik, Kunst oder Literatur. Und umgekehrt findet Kunst nicht in irgendeinem abstrakten Raum statt. Wenn man komponiert, denkt und fühlt und hört man nicht in sorgsam eingeteilten Wirklichkeitsbereichen, sondern "kreuz und quer". Auch bei dem Stück „Potentiale“ für den Platz der Weltausstellung, das ich in der zeit.lupe vorgestellt hatte, war es ja so, dass sich etwas, was bei dem Platz der Weltausstellung hörbar ist, wie in dem Fall die Glocken der Marktkirche, sich für mich verbinden mit einer Wahrnehmung von Stadt. Hier könnte man ebenfalls sagen, dass das auch gesellschaftliche oder politische Dimensionen hat.

Es war dort also nicht so, dass du einfach nur den Klang an sich interessant fandest?

Nein, das natürlich auch, Musik ist ja Klang, wie auch das letzte Resultat, das für sich stehen soll. Dass es für mich einen Hintergrund hat, kann mehr oder weniger wichtig sein, aber letzten Endes zählt natürlich nur das Resultat und wie andere wiederum darauf reagieren. Bei dem Thema Klanginstallation ist ja schon sehr wichtig, dass sie man sie immer für sehr konkrete Orte macht.

Könntest du dir vorstellen, diese Werke auch woanders aufführen zu lassen, eventuell mit einer entsprechenden Bearbeitung für den anderen Ort?

Bei einer Klanginstallation macht das wenig Sinn, gerade bei der für den Platz der Weltausstellung, weil diese wirklich dafür gemacht ist. Bei dem anderen Stück wäre das im Prinzip möglich, denn das ist für eine Parksituation geschaffen, die man auch in einem anderen öffentlichen Garten finden könnte.

Kannst du das Stück „Potentiale“ noch einmal etwas genauer erläutern, z.B. wie du dort die Klänge verarbeitet hast?

Die Grundidee war, musikalisch/klanglich zu zeigen, welche Potentiale in so einem Glockenklang stecken. Das bezieht sich zum Beispiel darauf, dass man das Verklingen, den Nachhall aktiv werden lässt. Wenn man außerdem den Klang auf einer Mikroebene analysiert, bekommt man heraus, wie er überhaupt erst entsteht und wie er dann wieder vergeht. Beim kurzen Moment des Anschlags findet er sich aus einer Geräuschhaftigkeit heraus, dann bleibt er eine Weile konstant und am Schluss geht er wieder zurück in eine andere Art von Geräuschhaftigkeit. So war es meine Absicht, diesen Dingen, die eigentlich vorübergehend sind, ein eigenes Leben und eine eigene Hörbarkeit zu geben. Ein Glockenklang ist ja eigentlich sehr starr, aber gleichzeitig steckt darin ein großes Potential an Verschiedenheiten. Das ist das eigentliche Thema, das auf diese Weise in Bewegung kommt – Dinge aus einem festen Zusammenhang herauszulösen, von verschiedenen Seiten zu betrachten und dadurch auch die Potentiale zu zeigen, interessiert mich sehr. Man könnte hier von Nachdenken sprechen, auch wenn es nicht so philosophisch oder diskursiv gemeint ist, sondern eher als „Nachhören“. Hören ist ja grundsätzlich etwas anderes als Sehen, das Hören braucht Zeit.

Und es ist ja auch eine gewisse Analyse dabei, eine Analyse des Klangs an sich. So wie auch bei deiner Verwendung der Zitate – durch die Verlangsamung werden sie in ihre Bestandteile zerlegt.

Genau. Und wenn es funktioniert, kommt etwas in Gang, dass bei dem Zuhörer etwas in Bewegung setzt, zumindest als Angebot. Das ist die Art, wie mir Musik etwas bedeutet – einerseits als Erregungszustand, auch gemeint als körperliche Zustände und Wahrnehmungen oder Energien, und andererseits auch, nachzuhören und nachzudenken in einem bestimmten Sinn.

Die genannten Aspekte der Bewegung, der Analyse von Potentialen, des Nachdenkens – spielen sie auch eine Rolle bei deinem Unterricht an der Hochschule? Wie gestaltet sich dein Unterricht, versuchst du deine eigenen Ansichten zu vermitteln oder versuchst du eher die Studenten zu ganz eigenen Wegen zu animieren?

Natürlich, jeder ist verschieden. Für mich war die Erfahrung meines Studiums bei Younghi Pagh-Paan, die ein sehr gutes Gespür dafür hat, wie man die jeweiligen Eigenarten fördern kann, ganz entscheidend. Auf keinen Fall soll das Ziel sein, dass alle so komponieren wie man selbst. Das wäre ja auch ganz langweilig, denn man möchte doch auch mal etwas anderes hören (lacht). Es ist wirklich schön, wenn man merkt, dass man wirklich etwas vermitteln konnte, das zur Entwicklung eines eigenen Weges beigetragen hat. Kompositionsunterricht ist eine Begleitung des eigenen Sicherwerdens im Komponieren, eine langwierige Geschichte. In der Entwicklung gibt es natürlich immer wieder unterschiedliche Phasen, auch mal Krisen. Es geht dann weiter, wenn Stücke entstehen, die für denjenigen, der sie schreibt, befriedigend sind, und wenn man auch als Lehrer merkt, dass etwas in Bewegung ist.

Der Unterricht in elektronischer Komposition gehört zum allgemeinen Studium dazu, das ist ein Pflichtfach?

Ja, jeder sollte sich dafür interessieren. Das kann natürlich ganz verschieden sein, manche haben auch schon viel in dem Bereich gemacht, manche nichts. Am Ende des Weges entscheidet sich, ob das für den jeweiligen von bleibendem Interesse ist – manche sagen, das ist nichts für mich, ich schreibe lieber Musik mit „echten“ Noten, andere sagen, ich mache nur noch Elektronik, dazwischen ist alles möglich. Dass Elektronik wichtiger wird, ist für mich keine Frage, und zwar nicht nur im Komponieren, sondern im ganzen Lebensablauf erlebt ja jeder, wie sich die Bedeutung von Computern etc. ständig vergrößert. Insofern bin ich ganz sicher, dass dies ein Teil des Musiklebens und der Ausbildung ist, der immer wichtiger werden wird. Ich versuche daran mitzuwirken, dass die Möglichkeiten, die darin liegen, möglichst selbständig genutzt werden. Ich bin engagiert in der Open-Source-Bewegung, zum einen da es mir wichtig ist, dass die Studenten nicht viel Geld in Software investieren müssen, zum anderen gibt es hier eine Form der Zusammenarbeit, die etwas sehr Produktives hat. Mein Anliegen ist, dass die Studenten lernen, kreativ und eigenständig mit den Möglichkeiten umzugehen. Außerdem versuche ich im Rahmen des elektronischen Studios eine Zusammenarbeit mit Instrumentalisten aufzubauen. Jeder der Interesse hat, kann dort die Möglichkeit von Instrumenten mit Live-Elektronik ausprobieren, und mit verschiedenen Angeboten zur Audio-Programmierung kann jeder selbständig etwas machen, spannende Konzepte zur Improvisation und Komposition entwickeln. Die Elektronik kann so zur Erweiterung des Instruments werden.

Zur Erforschung möglicher Klanglichkeiten ist die Zusammenarbeit mit Instrumentalisten ja ohnehin wichtig.

Ja genau, in der Neuen Musik sowieso. Für mich ist wichtig, was eine Dimension tiefer passiert, da macht es keinen Unterschied, ob es nun um drei Blockflöten oder ein elektronisches Medium geht. Ich bin auch Mitglied im Theater der Versammlung in Bremen, einem Performance-Theater im weitesten Sinne, bin dort einerseits als Spieler, andererseits als Komponist aktiv. Für das letzte größere Projekt habe ich die Musik gemacht, und durch die elektronischen Medien hat man dort einfach sehr viel mehr Möglichkeiten. Ich habe viel mit bildenden Künstlern zusammengearbeitet, sowohl Videokünstler als auch andere, und da ich auch Literaturgeschichte studiert und selbst ein Buch geschrieben habe, interessiert mich Literatur natürlich grundsätzlich immer sehr – zum Beispiel habe ich Zwischenmusiken zu Heine-Texten geschrieben.

Wie siehst du die Möglichkeiten in Hannover, im Vergleich mit anderen Orten? Siehst du irgendwelche Chancen, hier noch mehr zu machen oder andere Wege zu gehen?

Ich finde die Entwicklung in Hannover sehr positiv. Seit fast sechs Jahren bin ich hier an der Hochschule, und was sich in dem Bereich, den ich betreue, entwickelt hat, ist schon enorm. In der guten Zusammenarbeit mit Johannes Schöllhorn haben wir viel auf die Beine gestellt, und es ist eigentlich jedes Jahr mehr, was wir an Veranstaltungen machen. Auch mit dem Netzwerk Neue Musik haben sich andere Perspektiven ergeben. Ich glaube, dass das erst ein Anfang ist, und es ist nun entscheidend, dass die verschiedenen Initiativen weiter aktiv bleiben. Ich finde die Situation in Hannover sehr anregend, auch von der Atmosphäre sehr positiv, die Konkurrenz um öffentliche Gelder scheint mir hier nicht so im Vordergrund zu stehen wie oft an anderen Orten. Es gibt viele positive Zeichen vom Land aus, was auch nicht selbstverständlich ist. Und so eine Initiative wie die Bespielung der Klangstelen auf dem Platz der Weltausstellung durch Auftragskompositionen ist wirklich etwas Besonderes und international Einzigartiges.

Gibt es denn auch eine entsprechende Akzeptanz beim Publikum?

Ja, beispielsweise hat das Institut für neue Musik der HMT ja schon eine lange Zusammenarbeit mit dem Sprengel Museum und der Kestner Gesellschaft. Wenn wir da Konzerte veranstalten, kommen ungefähr hundert Leute, und das ist toll. Es gibt hier diese beiden sehr renommierten Museen für moderne Kunst – Hannover ist nicht einfach nur ein Loch, in dem nichts ist. Das sehe ich überhaupt nicht so. Es ist ja leider ein bisschen das Schicksal dieser Stadt, dass sie meist selbst weniger von sich hält, als wirklich passiert.


Das Interview fand am 17. Januar 2010 in Hannover statt und wurde in der Zeitschrift "noten und notizen" der Hannoverschen Gesellschaft für Neue Musik veröffentlicht.