Interviewäußerungen zur Frage "Warum haben Sie dieses Stück ausgewählt?"


1 John Cage, Williams Mix (1953)

John Cage, Williams Mix -- das ist ein verrückter Zirkus aus klanglichen Fetzen -- eine verkehrte Welt, die die vorhandene klangliche Welt neu mischt. Wenn alles zerfetzt wird, ordnet es sich zu neuen Zusammenhängen -- neue Nachbarschaften entstehen, neue Verbindungen, neue Bezüge --- und das alles in einem klanglichen Körper, der manchmal geradezu etwas tierisches bekommt -- mal zuckend, mal einschlummernd, dann wieder auffahrend, und so weiter. Mindestens genauso wichtig wie die klangliche Gestalt ist für mich die kompositorische Technik, die zu diesem Resultat geführt hat. Hier verbindet sich eine ungeheuer detaillierte Ausarbeitung mit einer radikalen Offenheit der Konzeption. Das Williams Mix, das wir hören, ist nur eine Realisierung von Williams Mix als Konzept und kompositorischer Vorgehensweise. Jeder kann heute eine andere verwenden -- nicht Cage und doch Cage.

2 Karlheinz Stockhausen, Studie II (1954)

Stockhausen Studie II --- es sind eigentlich zwei Gründe, die mir das Stück wichtig gemacht haben. Zum einen lässt sich durch die Elektronik, die ja sozusagen vom Nullpunkt aus startet, also jedes einzelne klingende Element selbst erzeugt, in einer durch Zahlen zu beschreibenden Weise -- durch die Elektronik also lässt sich hier eine kompositorische Vorgehensweise in Reinform verfolgen, die ein Gegebenes in alle möglichen Richtungen entfaltet. Ein Gegebenes: das ist hier die Folge der Zahlen 3-5-1-4-2, aus der buchstäblich alles in diesem Stück entsteht: der Vorrat aller Klänge Dauern Lautstärken ebenso wie die Anweisungen zur Auswahl der jeweiligen Parameter in den einzelnen Teilen. Das ist das eine. Das für mich genauso wichtige ist aber zu studieren, wie Stockhausen im Verlauf des Kompositionsprozesses auf das, was sich da erzeugt, reagiert. Er ändert nämlich dort, wo es seine Intuition als Komponist erfordert, den Ablauf der Reihen oder deren Interpretation, bis hin zu ganz spontanen Entscheidungen. Das ist also gerade keine Verherrlichung von abstrakten Algorithmen, sondern ein faszinierendes Zusammenspiel von Vorgabe und Intuition. Hören wir dieses Stück in einer Re-Generierung, die ich in dem Programm Csound geschrieben habe, um diese Prozesse im einzelnen zu studieren.

3 Luigi Nono, Risonanze erranti (1987)

Luigi Nono -- da ist zunächst mal dieser Satz von ihm, der frei zitiert lautet: Ich schreibe Musik, weil ich auf etwas reagiere, weil ich Zeugnis ablege von etwas, von einem Text des Lebens, als Musiker und als Mensch. Als Musiker und als Mensch -- obwohl man nicht über alles Musik machen kann oder sollte, kann doch der Bereich der Musik, und das eigene Komponieren, nicht getrennt werden von dem, was man als Mensch an sich und anderen erfährt. Für diese Haltung, die Musik zwar in einen eigenen Bereich setzt, aber nicht abschottet gegen andere Bereiche der Wirklichkeit, steht Nono ebenso we in dieser Sendung die Stücke von Barry Bermange, Younghi Pagh-Paan, Samir Odeh-Tamimi oder Tobias Klich. das ist die eine Seite, die mir an Nono wichtig ist. Die zweite Seite scheint das Gegenteil davon zu sein, und ich weiss hier kein anderes Wort als: Geheimnis. Als ich eine wunderbare Aufführung von Risonanze Erranti mit dem Experimentalstudio Freiburg in einer Kirche in Bremen erlebte, war ich vom ersten bis zum letzten Ton in einer kaum erträglichen Spannung. So wenig passierte, aber alles war durchzogen von dieser Spannung, eigentlich Überspannung, schmerzlich, gerade die Pausen, wie wenn man beim Weinen manchmal die Luft anhält --- nur die Resonanzen schienen etwas von Freiheit zu haben. Ja, aber eben nur in diesem Raum --- als ich dann die CD-Produktion desselben Stücks mit demselben Ensemble hörte, traute ich meinen Ohren nicht -- ich erkannte das Stück kaum wieder.

4 Iannis Xenakis, Hibiki Hana Ma (1970)

Eine ganz andere Art von Intensität finde ich in Xenakis' Tonbandstücken aus der Zeit um 1970. So wie es bei Nono ein ganz merkwürdiges Verhältnis zwischen Klarheit und Geheimnis gibt, so erlebe ich bei Xenakis ein merkwürdiges Verhältnis zwischen verallgemeinerter Vorgehensweise und einer Verwurzelung, die sich aus ganz anderen Quellen zu speisen scheint. Auf der einen Seite gibt Xenakis bereitwillig Auskunft über jedes Detail seines kompositorischen Vorgehens und bezeichnet das als "formalisierte Musik". Und man kann in diesen Stücken ja auch leicht beobachten, wie mit Übereinanderlagerungen von Schichten operiert wird, was für Prozesse ablaufen, und so weiter. Aber woher kommt diese Energie, die ganz tief wurzelt --- als ob sie aus der Erde kommt --- hat etwas Mythisches, Vorzeitliches, sozusagen Rohes --- ja, ich glaube diesen Ausdruck gebraucht Xenakis auch einmal, wenn er von einem Felsbrocken spricht.

5 Barry Bermange, Mirage Kino (1998)

Die klangliche Umgebung zu zerfetzen, um diese Fetzen dann neu zusammenzusetzen -- das war schon das Thema von Cages Williams Mix. Ganz ähnlich in bezug auf das Material, aber ganz verschieden in bezug auf den Umgang damit ist Mirage Kino von Barry Bermange. Mich fasziniert an diesem Hörstück unter anderem, wie Bermange hier mir Wiederholungen arbeitet. Da gibt es einmal die Wiederholungen im kleinen -- sozusagen eine Handvoll Klänge, die wiederholt werden. Das stellt erstmal die Rhythmik in den Vordergrund -- es gibt kleine rhythmische Figuren, die sich einhaken und für eine kurze Strecke gemeinsam durch die Gegend stolpern --- oder stolzieren, marschieren, schwimmen ... Aber mit der Rhythmik, mit der Wiederholung von Worten, die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen sind, gewinnen diese Fetzen eine neue Bedeutung. Das, was eigentlich etwas ganz Stereotypes war, tritt durch die Wiederholung und die Rhythmisierung, also das Stillstehen und das Umwenden, in einen Bereich zurück, in dem Gefühl neu entsteht. Herausgerissene Banalitäten kommen zu einem neuen Leben, öffnen sich, strahlen aus: yes, no, ein Atem; have to go back.

6 Younghi Pagh-Paan, Tsi-Shin-Kut (1994)

Wenn man über die Musik seiner Lehrer oder Schüler oder Freunde spricht, stellt sich ein besonderes Verhältnis -- man kennt ja die Person gut, diesen Menschen mit seinem Körper, seiner Stimme, seiner Ausstrahlung, seinen Gedanken --- wie verhält sich seine Musik dazu, von der man ja genauso sagen könnte, dass sie eine Körper, eine Stimme, eine Ausstrahlung und Gedanken hat? Mir scheint, dass Musik und Person wie zwei Ringe sind, die zwar an einer Stelle ineinander stecken, aber in verschiedene Richtungen auseinander wachsen. Das sind also verschiedene, wenn auch miteinander verbundene Bereiche ... -- Younghi Pagh-Paan habe ich erst als Lehrerin und Mensch kennen gelernt, bevor mir auch ihre Musik ganz wichtig wurde, und eine gleichzeitig mit ihr verbundene und doch neue Erfahrung eröffnete. Ihr einziges elektronisches Stück, das 1994 im elektronischen Studio des WDR entstandene Tsi-Shin-Kut für Schlagzeugquartett und Tonband, verkörpert etwas, das ich in ihrer Musik sehr häufig, in elektronischer Musik aber sehr selten finde: Zärtlichkeit. Hier gibt es eine Zartheit der Berührung zwischen Instrumenten und Elektronik, ein Bitten und Fragen statt Befehlen und Berechnen -- fast wie eine Utopie zu hören ...

7 Samir Odeh-Tamimi, Ahínnu (2001)

Manchmal trifft es sich, dass man während des gemeinsamen Studiums auf jemanden trifft, mit dem man nicht nur befreundet ist, sondern dessen Musik auch "einschlägt". So war das für mich mit Samir Odeh-Tamimi und seiner Musik. Da stand plötzlich, mit einem "Peng" sozusagen, eine "neue Musik" vor mir, rücksichtslos, aggressiv vielleicht, jedenfalls von Gewalt gezeichnet, von existenziellen, extremen Gefühlen und Äußerungen, wie Schreien, Wimmern, Schlagen. Eine Musik, bei der mir die Worte vergehen, wenn ich sie höre. Ahínnu - "ich sehne mich", für drei Blockflöten und Verstärkung, mit dem Trio Viaggio.

8 Tobias Klich, Der künstler sagt es geht um das Thema Angst (2011/2013)

Eine Musik zu schreiben über den Alltag von Psychiatriepatientinnen in der DDR, mit vielen Interviewdokumenten der Betroffenen -- das ist nicht gerade eine leichte Aufgabe. Wenn es nicht moralinsauer wird, führt es leicht zu einer Betroffenheitsästhetik, in der die Musik entweder ganz verschwundet oder völlig funktionalisiert wird. Tobias Klichs Arbeit "Der Künstler sagt es geht um das Thema Angst" tappt in keine dieser Fallen. Hier ist es die Musik, die den Raum schafft, in die die Sprache dann eintritt. Die Musik gibt die Zeit, und die Musik gibt den Raum vor, in dem die Sprache quasi skulptural ihre Positionen findet. -- Dieser Raum ist groß genug, um eine fast selbstironische Seite einfließen zu lassen. "Der Künstler sagt, es geht um das Thema Angst", sagt eine Stimme, die durch eine künstlerische Auseinandersetzung zum Thema Psychiatrie führt. solche Stimmen kommen mir bekannt vor, und mir scheint, dass sie dass, was in einem Kunstwerk, in einem Musikstück passiert,in ihrem Wohlmeinen oft gründlicher beseitigen, als wenn das Stück verboten würde. -- Wenn der Künstler nichts sagt, und ich also endlich hören kann, höre ich eine Musik, die ihre eigenen Wege geht, sich nicht von der Sprache vereinnahmen lässt --- und doch erscheint es mir irgendwann, als ob mir das Schockierende, das alltäglich Schockierende, durch die Musik wirklich nahekommt.

9 Joachim Heintz, Ambi-Schlagfluss (2005)

Manchmal ist eine Erregung direkt und äußert sich in einer Geste oder einem Laut. Manchmal steckt eine Erregung sozusagen in der Struktur; der Körper äußert sich nicht in einer Geste der Erregung, sondern der Körper ist Erregung, ist geladen, ist unruhig, gespannt. Solch eine Grundvorstellung war der Ausgangspunkt für mein "Schlagfluss" Projekt. Schlagfluss, also ein Fluss von Schlägen, von kleinen perkussiven Einheiten, die sich in verschiedenen Strömen verbinden, sich stauen, wieder trennen. Alles ist immer verschieden, keine Klangmischung bleibt dieselbe, kein Anhalten. Einen Schrei kann man nicht mehr hören.