33 Gedankensplitter zu kultureller Identität


1   Wir leben mit und in Bildern. Ein Bild vom anderen Menschen, ein Bild von der Welt, ein Bild von der Zukunft, ein Bild von der Vergangenheit.

2   (Auch beim Komponieren. Komponieren könnte, glaube ich, beschrieben werden als Ausformung eines inneren Bildes und dessen Ausarbeitung. Deshalb sprechen wir manchmal auch dort von Visionen, wo es nicht um visuelle Objekte im unmittelbaren Sinn geht.)

3   Wenn wir jemandem begegnen, begegnen wir dem Bild, und gleichzeitig begegnen wir dem, was nicht ins Bild passt.
Besonders deutlich ist das, wenn wir verliebt sind. Welche Bildproduktion, die nun ihre Verwirklichung gefunden hat!

4   Ist es tatsächlich die Verwirklichung? So ganz wohl nie — das merken wir mehr oder weniger schnell. Ent-täuschung, positiv verstanden, ist der Verlust an Täuschung. Täuschung ist die Annahme, die andere Person, das Gegenüber sei identisch mit dem Bild, das wir uns von ihr machen.

5   So taucht hier der Begriff der Identität auf: Als Behauptung der Übereinstimmung eines Bildes mit der Wirklichkeit. Diese Behauptung führt zwei Probleme mit sich: Die Differenz zwischen Bild und Realität, und die Wandlung durch die Zeit.

6   Es scheint in der Natur der Sache zu liegen, dass ein Bild, verglichen mit der Wirklichkeit, immer eine Vereinfachung ist. Von manchen Bildern, die sich andere von uns machen, fühlen wir uns verkannt. Von anderen fühlen wir uns gut getroffen, doch decken auch diese immer nur einen Aspekt von uns ab. Die Wirklichkeit unserer Handlungen, und noch viel mehr die Wirklichkeit unserer Gefühle und Gedanken, ist viel komplexer und widersprüchlicher als ein Bild.

7   Das zweite Problem ist die Veränderung in der Zeit. Wir alle verändern uns mehr oder minder kontinuierlich oder abrupt. Trifft ein Bild von mir heute einigermaßen zu, so wird es in der Zukunft nur zutreffen, wenn es sich mit mir verwandelt.

8   Dasselbe gilt von der Kultur. Jede Kultur befindet sich in einem beständigen Prozess von Verwandlung.

9   Sind Bilder also lebendig, sind sie in Bewegung.

10   Sie sind in Bewegung, weil die Wirklichkeit immer in Bewegung ist. Und sie sind in Bewegung, weil diejenigen, die sich die Bilder von etwas machen, immer in Bewegung sind.

11   (Exkurs I. In der Thora heisst es von Gott: Du sollst dir kein Bildnis von mir machen (Ex 20). Gott ist also genau das, was sich der Bildproduktion verweigert.)

12   (Exkurs II. Es gibt ein Gefühl, vor allem in der Liebe, das sich der ständigen Wandlung zu entziehen scheint. Das ist Niko, sage ich dann, und meine ein Bild des anderen, das ich vielleicht als sein Wesen bezeichne. Dieses Wesen empfinde ich dann als immer gleich, egal ob Niko älter wird, oder einen Schlaganfall hat, oder stirbt. Er bleibt, auch dann, Niko.
Dieses Wesen, dieses scheinbar unveränderliche Bild, ist ein Rätsel. Es verbindet sich mit dem Namen.)

13   Wenn Bilder also eigentlich immer in Bewegung sind, und immer mehr oder minder unzutreffend sind, und wenn die Rede von Identität die Übereinstimmung eines Bildes mit der Wirklichkeit meint: Dann muss das Bild über vieles hinwegsehen, damit die Identität lange bleiben kann.

14   So bei der staatlichen Identifikation einer Person. Die mir zugeschriebene, sich in der identity card ausdrückende Identität, nennt mich gleich vom Tag meiner Geburt bis zum Tag meines Todes. Sie sieht also über körperliche und geistige Veränderungen, den Verlust von Fähigkeiten, den Wechsel der Lebensumstände oder Weltanschauungen hinweg.

15   Wieviel mehr erst bei kollektiven Identitäten, die globalen und lokalen Wandlungen unterworfen sind.

16   (Oder gleichen sich hier die individuellen Veränderungen aus? Gibt es tatsächlich eine kulturelle Identität, die quasi konstant bleibt?)

17   Wir können nicht anders, als Bilder zu produzieren. So lange wir leben, sind wir Bildproduzenten und Bildrezipienten. Wir sehen andere in einer bestimmten Weise, und wir werden von anderen in einer bestimmten Weise "bebildert".
Was sind Motivationen, diese Bewegung stillzustellen und zu sagen: "Das ist meine Identität"?

18   Eine Motivation scheint es zu sein, sich zu bekennen. Zu bekennen zu einer Gruppe, die in der Minderheit ist, oder abgewertet wird, oder entrechtet ist. Ich bin schwul, lesbisch, divers; ich bin Jude, Christ, Muslim; ich bin Kommunist, Anarchist, Syndikalist; ich bin Inuit, Maori, Tamile. Diese Bekenntnisse sind Ausdruck eines Selbstbewusstseins, Teil eines Kampfes für Emanzipation, stolze Verortung der eigenen Position.
Ähnlich die Wiederentdeckung einer verborgenen, verschütteten Tradition, insbesondere in der eigenen Familie oder Ethnie. Vielleicht war die Urgroßmutter noch Schamanin, und ich entdecke nun diese Seite und bekenne mich dazu.

19   Die gegenläufige Motivation kommt von denen, die den anderen eine bestimmte Identität zuweisen. Ihr seid Juden, ihr seid Muslime in einer christlichen Gesellschaft — es ist also unsere Gesellschaft, in der ihr mit eurer anderen Identität bestenfalls zu Gast seid. Diese Zuweisung einer Identität ist feindlich und ausgrenzend.

20   Es besteht also ein grundlegender Unterschied, ob man sich selber zu einer Identität bekennt, oder ob man eine Identität zugeschrieben bekommt.

21   So auch kulturell.

22   Die Behauptung einer kulturellen Identität kann beides sein: ein Akt der Befreiung, oder ein Instrument von Ausgrenzung und Unterdrückung.

23   Immer aber legt sie fest. Kunst dagegen ist nicht Festlegung und Ruhigstellung und Bestätigung, sondern Kunst will die Dinge bewegen und sie unter einer neuen Perspektive betrachten.

24   Kunst lebt geradezu davon, die Identitäten durcheinander zu bringen. Sie löst eindeutige Zuordnungen auf. Ich bin nicht König oder Bettler, eins von beiden und sonst nichts, sondern ich bin König und Bettler. (Heiner Müller: Mein Platz wäre auf beiden Seiten der Barrikade.)

25   Als Musiker sind wir neugierig auf andere Kulturen und Musiken. Wir wollen fremde Instrumente ausprobieren, und wenn sie uns gefallen, formen wir sie um und machen sie zu unseren eigenen Instrumenten. Wir hören eine andere Musik und beschäftigen uns kompositorisch mit ihr. So wurde aus der arabischen Oud die europäische Laute, so wird die Musette in die barocke Suite integriert, so gibt es bei Mozart das Alla Turca und bei Beethoven das à la russe, so reagiert Debussy auf das javanische Gamelanorchester der Weltausstellung 1889 in Paris.

26   Ob diese Neugierde die Enteignung des Fremden in einem kolonialen Akt ist, oder ein wirklicher Dialog zweier Kulturen, das kann man nur beurteilen, wenn man sich die Art dieser Begegnung im Detail anschaut.

27   Es wird auch nicht für alle dasselbe Urteil dabei herauskommen. Die Tanbur, eine iranische Langahlslaute, galt noch vor einigen Jahrzehnten als heiliges Instrument. Wenn für dieses Instrument von Komponisten verschiedener Herkunft Stücke geschrieben werden, die dieses Instrument neu entdecken und eng mit einem iranischen Instrumentalisten zusammenarbeiten, der die Tradition kennt und wertschätzt, wird es doch andere Tanburspieler geben, die es als Sakrileg ansehen, dass ihr Instrument so behandelt wird.

28   Schreibt also ein europäischer Komponist Musik für ein traditionelles asiatisches Instrument, gibt es zwei Gruppen, die ihre kulturelle Identität dadurch angegriffen sehen können: In Deutschland diejenigen, die von einer deutschen kulturellen Identität reden, die dadurch aufgeweicht, gefährdet oder zersetzt wird, und in Asien diejenigen, die eine andere Musik für ihr Instrument als Sakrileg ansehen, gegen den Geist der eigenen Tradition, im Dienst des westlichen Imperialismus.

29   Diese beiden Haltungen haben etwas gemeinsam, indem sie eine Identität festhalten wollen. Aber sie sind asymmetrisch.

30   Sie sind asymmetrisch, weil die Machtverhältnisse ungleich sind. Auf der einen Seite sprechen die Erben des Kolonialismus und der europäischen Vorherrschaft; auf der anderen Seite sprechen die Bewahrer der Tradition, die sich zumindest subjektiv im Modus der Selbstverteidigung befinden.

31   Es könnte so sein: Zu wissen — individuell und kollektiv — dass unsere Bilder dazu da sind, in Bewegung gebracht und aufgelöst (dekonstruiert) zu werden. Und dass die Kunst genau dazu prädestiniert ist.

32   Aber tatsächlich bewegen wir uns in Feldern der Macht. Felder, die von Herrschen und Beherrschtwerden gekennzeichnet sind, vom Streben nach Dominanz und dem Kampf um Selbstbehauptung. In diesem Kontext tritt kulturelle Identität als Kampfbegriff auf.

33   Freiheit hieße, nicht mehr nach Identität suchen zu müssen.

Der Text entstand aufgrund der Einladung von Dr. Anna Fortunova zu einem Seminar über kulturelle Identität an der Universität Leipzig im November 2020. Eine PDF Version kann hier heruntergeladen werden.